Archiv für Dezember 2013

Oralität und Literalität

Einleitung

Seit vielen Jahrzehnten gehört es zum Selbstverständnis der Ethnologie, daß sie ihren Gegenstand in der Untersuchung schriftloser und nicht-industrialisierter Kulturen findet, während der Gegenstand der Austronesistik zu einem großen Teil gerade die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Schriftkulturen ist. Beide Wissenschaften besitzen allerdings eine gemeinsame Schnittstelle, und diese Schnittstelle liefern diejenigen austronesischen Kulturen, die im Verlauf ihrer Geschichte selbst kein eigenes Schriftsystem entwickelt haben, sondern erst in neuerer Zeit Schriftsysteme anderer Kulturen übernahmen (1). Heute befinden sich diese austronesischen Kulturen, um einen Terminus zu übernehmen, den Jack Goody verwendet, in einer Phase begrenzter Literalität (2). Goody findet es erstaunlich, daß Sozialwissenschaftler in der Vergangenheit so wenig Interesse an Literalität gezeigt haben: Soziologen, die in den sogenannten komplexen Gesellschaften arbeiten setzen die Verwendung von Schriftsystemen im allgemeinen voraus, Ethnologen dagegen beharren oft auf der Präliteralität, meinen damit Primitivität, der von ihnen untersuchten einfachen Kulturen. Wie wir bei Urs Bitterli (3) lesen können gehört die Anwesenheit beziehungsweise die Nicht-Anwesenheit von Schriftsystemen seit dem 18.Jahrhundert zu den prägenden Unterscheidungen geworden, die zwischen den Kulturen getroffen werden. In ethnozentristischer Absicht werden Kriterien wie Schriftlichkeit oder Mündlichkeit dazu benutzt, um zu bewerten, um darüber zu entscheiden, über welche intellektuellen Fähigkeiten Menschen einer Kultur verfügen. Mit anderen Worten: die Art und Weise, in welcher eine Kultur Wissen erwirbt, bearbeitet und tradiert, wird zum Maßstab einer interethnischen Bewertung. Es ist inzwischen oft genug dokumentiert worden, und nicht nur innerhalb der Ethnologie, wie diese Bewertung Oralität diffamiert, meistens von der Sache her falsch und einer Ideologie verpflichtet. Vor diesem Hintergrund fällt es Goody natürlich nicht sehr schwer, zu zeigen, daß Schriftlichkeit versus Nicht-Schriftlichkeit als unterscheidendes Kriterium nicht greifen kann, da zumindest in den letzten 2000 Jahren der größte Teil der Kulturen dieser Erde weder in der einen noch in der anderen Art von Kultur leben, sondern in unterschiedlichem Maße von der Zirkulation des geschriebenen Wortes beeinflußt worden sind. Diese Kulturen leben an den Rändern der Literalität, und dies ist ein Sachverhalt, der von vielen Wissenschaftlern übersehen worden ist (4).

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Tekes: Rituale der Landwirtschaft

Rituale der Maisernte in Molo-Miomafo

Vorbemerkung

Der folgende Text ist ein Zufallsbefund aus dem Jahr 1991. Ich sitze mit dem SMA-Lehrer Marcelinus Besa zusammen und wir diskutieren die indigene Kultur der Atoin Meto. Besas Familie ist in Nenas, Nordmolo, zu Hause. Sie ist nach dorthin umgesiedelt und lebt nun dort schon seit 20 Jahren. Früher lebte sie in Oeolo, Westmiomafo. Dort ist ihr Ursprungsort (uf). Im Verhältnis zu Oelolo ist Nenas tunaf, die Spitze ihrer Migration weiter westwärts.
M.Besa unterrichtet Englisch an der SMA-Kristen in Nunumeu, So`e.
Die Rituale, die M.Besa schildert, stammen aus Miomafo. Als Heranwachsender hat er diese in Oelolo oft miterlebt. Er erzählt sie mir aus seiner Erinnerung.
Für den Bericht über das Tekes-Ritual seiner Namengruppe (kanaf) bezieht sich M.Besa auf seinen Bruder, den amtierenden inoffiziellen Mnane in Oelolo. Marcelinus Bruder selbst hat dieses Ritual in dessen Gegenwart durchgeführt. Marcelinus war eigens zu diesem Ereignis nach Westmiomafo gereist, um das Ritual, das die gesamte Namengruppe (kanaf) Besa betrifft, mitzuerleben. In Westtimor sind solche Rituale gebannt und gehören in den kulturellen Untergrund.

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Die Wurzel [*u-] im Uab Meto

Die Wortwurzel [*u-] (BI pokok oder asal-usul) und seine Derivate un, uk und uf implizieren ein Konzept, das einen gemeinsamen Ursprung (un mese, ein Stamm) impliziert.

[*u-] botanisch

Un ist die Einheit von Baumstamm und Wurzel. Das Uab Meto unterscheidet terminologisch nicht zwischen beiden Baumsegmenten. Zwischen Baumstamm, Strauch und Staude wird ebenfalls nicht streng differenziert. Un ist der Terminus, der den Stamm der verschiedenen Baumarten bezeichnet.

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Die Textilien der Atoin Meto

Technologie und Ikonographie als Ethnic Marker in Westtimor

Meine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ostindonesischen Kultur der Atoin Meto begann mit der farbenprächtigen textilen Tradition dieser Ethnie, der dominierenden Population im Westen der Insel Timor. Meine nur hier publizierte Untersuchung Textilen der Atoin Meto: Variationen eines Stils in Westtimor (Teil 1 und Teil 2) war als Grundlagenforschung für die Dokumentation von musealen Sammlungen gedacht.

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Die Kultur der Atoin Meto

Die Kultur der Atoin Meto in Westtimor

Die ethnographischen und ethnologischen Studien und Untersuchungen, die ich in diesem Webblog publiziere, enthalten meine Forschungen über die Kultur der Atoin Meto in Westtimor aus den Jahren seit 1986. In thematisch zusammenhängenden Forschungen beschäftige ich mich insbesondere mit der textilen Tradition sowie der mündlichen Dichtung der Atoin Meto als deren bevorzugte symbolische Kommunikationssysteme.

Die Ergebnisse meiner Forschungen sind in drei Bereiche gegliedert:

  • Ethnographie der Atoin Meto (Ethnologie);
  • die textile Tradition der Atoin Meto (Textilien);
  • die mündlichen Dichtungen der Kuan Fatu-Chronik (Dichtung).

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Forschungsprojekt Atoin Meto

Den
Herren des Waldes und den Krieger-Kopfjägern des Waldes
den vier Stieren und den vier Männern
nämlich Ton und Finit, Babis und Sapai
ihrem Land und ihrem See
in Mai und Nai Lete, in Kua Muke und Bi Taek

Dort trafen sie sich und dort versammelten sie sich
Auf ihren Schoß nahmen sie mich dort, auf ihre Schultern hoben sie mich dort

Was mag doch größer und wichtiger sein, denn so viel Toten das Leben, dem Vergessenen das ewige Gedächtnis, dem Verfinsterten das Licht wieder schaffen und geben.

Johannes Aventinus (1534) formuliert das Programm, dem sich Ethnologie, Literatur und Geschichtswissenschaft ohnehin verschrieben haben. Wer sich für die austronesischen Kulturen Indonesiens im allgemeinen interessiert, für ethnologische und literarische Themen im besonderen, wer sich darüber hinaus nicht scheut, auch längere wissenschaftliche Texte zu lesen, hat den richtigen Blog geöffnet.

Vorbemerkung

Die Texte dieses Weblogs sind den Atoin Meto in Westtimor gewidmet, einer Bevölkerung, die in Timor seit Jahrhunderten heimisch ist. Sie nennen sich Meto oder Atoin Meto – die Einheimischen. Nicht jeder meiner Texte ist selbsterklärend. Will es auch nicht sein, da jeder Text sich mit nur einem Aspekt dieser Kultur beschäftigt. Erst die Gesamtheit aller Texte, sollte mein Atoin-Meto-Projekt wirklich einst abgeschlossen sein, zeigt einen größeren Ausschnitt dieser faszinierenden, ostindonesischen Kultur, ein Fragment, dass darüber durch meine Perspektive und Handschrift geprägt ist. Das bedeutet aber auch: Es gibt weitere Sichtweisen und Blickwinkel, die ich als Einzelner gar nicht alle wahrnehmen und berücksichtigen kann. Die dezentralisierte, territorial differenzierte, feudale vor-indonesische Kultur der Atoin Meto tradiert ihre Geschichte in einer Vielzahl konkurrierender Versionen – den klanzentrischen mündlichen Dichtungen regionaler Geschichte.

Atoin Meto Reloaded setzt die Präsentation meiner Westtimor-Forschungen fort, Texten zur oralen Literatur und textilen Ikonographie, die ich seit Beginn der 1990er Jahre in Printmedien und von 1999 bis 2015 online in Vingilot – Beiträge zur Anthropologie publiziert habe. Reloaded im Titel dieses wissenschaftlichen Web-Projekts weist daraufhin, dass ich in Atoin Meto Reloaded eine Neuordnung präsentiere, die über das inzwischen eingestellte Projekt Vingilot hinausreicht.  In Atoin Meto Reloaded publiziere ich fortschreitend meine noch unveröffentlichten Atoin-Meto-Materialien, bearbeite sie wissenschaftlich und mache sie öffentlich zugänglich.
Mein Web-Projekt Vingilot – Beiträge zur Anthropologie war nie als abgeschlossenes Projekt gedacht, sondern stellte eine Plattform dar, die den Fortschritt und die Ergebnisse meiner ethnologischen Arbeiten reflektieren sollte. Der jeweils aktuelle Stand meines wissenschaftlichen Dialogs mit meinen umfangreichen Feldforschungsdaten war immer nur so aktuell, wie meine Interessen und Forschungen.

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