Textlinguistik: Eine Einführung

Literatur

Assmann, A. und J. Assmann, Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation, Bd.2, München, 1987.
Klaus BRINKER, Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Grundlagen der Germanistik 29, Berlin, 1985.
S.J. SCHMIDT, Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation, München; 1973.

Der Textbegriff in der linguistischen Textanalyse

Text:
die Kombination einer Anzahl von Versen, die zusammengenommen eine komplexere Information kommunizieren können, als dies einem einzelnen Vers möglich ist.

  • Textbegriff in der Alltagssprache: eine Satzfolge wird dann als Text bezeichnet, wenn sie in inhaltlich-thematischer Hinsicht als zusammenhängend, als kohärent interpretiert werden kann. KOHÄRENZ (im inhaltlichen Sinn) ist das grundlegende Merkmal für den alltagssprachlichen Textbegriff.
  • Der linguistischen Textbegriff: auch hier gilt der Text als eine kohärente Folge von Sätzen. Im Gegensatz zum alltagssprachlichen Textbegriff, der auf inhaltliche Kohärenz zielt, wird Textkohärenz nun rein grammatisch aufgefaßt. Das heißt: die syntaktisch-semantischen Beziehungen zwischen Sätzen, Wörtern oder Wortgruppen (= sprachlichen Elementen) in aufeinanderfolgenden Sätzen befinden sich im Fokus der Textanalyse.
  • Der Textbegriff in der kommunikationsorientierten Textlinguistik: Texte sind immer eingebettet in eine Kommunikationsstiutation; sie stehen immer in einem konkreten Kommunikationsprozeß, in dem Sprecher und Hörer bzw. Autor und Leser mit ihren sozialen und situativen Veraussetzungen und Beziehungen die wichtigsten Faktoren darstellen.

SCHMIDT definiert deshalb auch: Ein Text ist jeder geäußerte sprachliche Bestandteil eines Kommunikationsaktes in einem kommunikativen Handlungsspiel, der thematisch orientiert ist und eine erkennbare kommunikative Funktion erfüllt (Schmidt, 124).

Eine kommunikationsorientierte Textlinguistik

  • fragt nach dem Zweck, zu welchem ein Text in Kommunikationssituationen eingesetzt wird;
  • fragt nach der kommunikativen Funktion von Texten, d.h. sie fragt nach der Beziehung, die ein Emittent (Sprecher oder Schreiber) mit einem Text gegenüber einem Rezipienten zum Ausdruck bringt – erst diese Beziehung verleiht dem Text einen kommunikativen Sinn;
  • fragt nach kommunikativen Kompetenz, also nach der Fähigkeit des Sprechers oder Schreibers, mit Hilfe sprachlicher Äußerungen in eine Kommunikationssitutation einzutreten.

Unter diesen Voraussetzungen entwirft die linguistische Textanalyse einen sogenannten integrativen Textbegriff, der den sprachsystematisch und kommunikationsorientierten Ansatz als komplementäre, das heißt sich nicht ausschließende, sondern ergänzende, komplementäre Konzeptionen auffaßt. Eine adäquate linguistische Textanalyse erfordert die Berücksichtigung beider Ansätze. Dieser Auffassung trägt nur ein integrativer Textbegriff Rechnung:

Definition integrativer Textbegriff: Ein Text ist eine sprachliche und zugleich kommunikative Einheit. Der Terminus Text bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert.

Diese Definition bezieht sich auf zwei Kriterien:

Text in sprachlicher Hinsicht

  • die Einheit Text wird als eine Folge von sprachlichen Zeichen untersucht
  • das sprachliche Zeichen gilt dabei im Sinne von de Saussure als bilaterale Einheit, das heißt als feste Verbindung von „signifié“ (Bezeichnung, Bedeutung, Inhalt) und „signifikant“ (Bezeichnendes, Form, Ausdruck)

unterschieden wird ebenfalls in elementare sprachliche Zeichen (Morpheme) und komplexe sprachliche Zeichen (Wortgruppen, Sätze). Der Satz bildet dabei die wichtigste Struktureinheit des Textes.

Text in kommunikativer Hinsicht

  • In dieser Hinsicht wird ein Text durch seine kommunikative Funktion charakterisiert:
  • Eine kohärente, grammatisch und thematisch zusammenhängende Satzfolge erfüllt noch nicht das Kriterium der Textualität – dazu gehört in jedem Fall die kommunikative Funktion sowie der Kommunikationsakt.

Text und Überlieferung

Die Definition eines Textes wird nicht so sehr von theoretischen Erwägungen geleitet, sondern von den Bedürfnissen einer kulturwissenschaftlichen Praxis, deren Aufgabe Verständnis und Interpretation von mündlichen oder schriftlichen Texten ist. Diese Auffassung von Text orientiert sich an dem Ansatz eines kommunikationsorientierten Textbegriffs. Darüber hinaus tritt in dieser Definition ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt hervor, nämlich das Überlieferungsproblem von Texten: Texte, so lautet das Fazit dieser Definiton, finden ihren Zweck darin, überliefert zu werden, da es keinen anderen Grund gibt, eine Sprechhandlung über diese Handlung hinaus zu bewahren.

Texte (…) sind weder beschränkt auf schriftliche Objektivationen sprachlicher Kommunikation, noch stellen sie andererseits den Normalfall und Naturzustand sprachlichen Geschehens dar. Sie bilden vielmehr einen Sonderfall, der sich ergibt, wenn der Wortlaut, der sich normalerweise im Vollzug des Sprechens und Handelns spurlos aufhebt, arretiert wird, etwa, weil das Kommunikationsgeschehen über das Hier und Jetzt einer konkreten Situation hinaus ausgedehnt wird und das Gesagte aus unterschiedlichen Gründen bewahrt werden muß, um an anderem Ort oder zu anderer Zeit wiederholt werden zu können (Assmann und Assmann, 12).

Die Analyse der Textstruktur

Die Beschreibung der Struktur von Texten bezieht sich auf das Gefüge der Relation, die zwischen den Sätzen bzw. Propositionen als unmittelbare Strukturelemente des Textes bestehen, und die den inneren Zusammenhang, die Kohärenz des Textes, bewirken.

Text = ein Beziehungsgefüge von Sätzen als den unmittelbaren Strukturelementen, die die innere Kohärenz des Textes garantieren.
In Bezug auf die Analyse der Textstruktur sind zwei Ebenen der Beschreibung möglich:

  • die grammatische Beschreibungsebene = Untersuchung der grammatischen Kohärenz, das heißt: Untersuchung der syntaktischen und semantischen Beziehungen zwischen aufeinanderfolgenden Sätzen, die für den Zusammenhalt eines Textes relevant sind;
  • die thematische Beziehungsebene = Untersuchung der kognitiven Kohärenz, das heißt: Untersuchung des Zusammenhangs, den der Text zwischen den Sachverhalten herstellt, die in den aufeinanderfolgenden Sätzen ausgedrückt werden.

Der Satz als textuelle Grundeinheit

Der Satz ist die strukturelle Grundeinheit eines Textes.
Um den Satz als kohärente Einheit eines Textes zu definieren stehen zwei unterschiedlich zu bewertende Möglichkeiten zur Verfügung:

Die Interpunktion als definitorisches Kriterium des Satzes:

Macht man die Interpunktion zum grundlegenden Kriterium für die Feststellung dessen, was ein Satz ist, so lautet die Definition: ein Satz ist der Abschnitt eines Textes, der durch Punkt, Ausrufezeichen oder Fragezeichen sowie durch Großschreibung des folgenden Wortes abgegrenzt und als eine relativ selbständige grammatische Einheit beobachtbar ist.

Ein auf der Interpunktion gegründeter Satzbegriff kann immer nur vorläufig sein. Obwohl die Interpunktion durch Konventionen festgelegt ist, gibt es eine Vielzahl von Texten, die ganz oder teilweise auf die Interpunktion verzichten. Der Verzicht auf Interpunktion erzielt beispielsweise in der Werbung oder im Gedicht eine besondere Kommunikationswirkung. Auf mündliche Dichtungen ist ein auf Interpunktion begründeter Satzbegriff überhaupt nicht anwendbar.

Ein auf Interpunktion gegründeter Satzbegriff gibt nur an, wie ein Autor seinen Text gegliedert hat.

Dient die Interpunktion als definitorisches Kriterium, so ist es der Deutlichkeit wegen besser von Textsegment oder von Segment und nicht von Satz zu reden. Hinsichtlich eines grammatischen Satzbegriffs ist es erforderlich, im Sinne der Bilateralität sprachlicher Zeichen, zwischen einer Ausdrucks- und Inhaltsseite von Sätzen zu unterscheiden.

Die ausdrucksorientierte Satzdefinition als grammatischer Satzbegriff

Ein Satz kann als eine sprachliche Einheit definiert werden, die sich aus einem Verb (Prädikat) als dem strukturellen Zentrum und einer Reihe von Satzgliedpositionen (Subjekt, Objekt, Adverbialbestimmungen usw.) konstituiert, die jeweils in bestimmten Abhängigkeitsrelationen zum tragenden Verb stehen. In diesem Sinne können Sätze entweder als einfache Sätze oder als Teilsätze (Haupt- und Gliedsatze in sogenannten Satzgefügen) realisiert werden.

Der Vorteil dieser ausdrucksorientierten Satzdefinition gegenüber der auf der Interpunktion beruhenden Definition liegt in dem Sachverhalt, dass sich bei der Terxtanalyse für verschiedene Texte einheitliche Segmentierungen angeben lassen.

Im Falle von Texten, die nicht einheitlich Sätze mit Prädikat verwenden, lässt sich das Prädikat meistens gedanklich ergänzen oder ein neues Prädikat kann eingefügt werden. Beim Lesen und Verstehen von Texten geht dieser Prozess in der Regel unbewusst vor sich. Durch Rückgriff auf den Kontext ist ein Prädikat implizit immer vorhanden, auch dann, wenn es explizit nicht ausgedrückt wird.

Texte, die teilweise mit Sätzen ohne Prädikat arbeiten, werden als elliptische Sätze bezeichnet. Bei der Analyse können solche ausgelassenen Satzteile über den Kontext explizit gemacht werden. Bei ausgelassenen Satzteilen muss es sich aber nicht nur um verbale Teile handeln, auch andere Satzglieder, wie beispielweise Subjekt oder Objekt, können fehlen. Elliptische Sätze können auch als Nachträge zu den Sätzen angesehen werden, auf die sie sich kontextuell beziehen. In grammatischer Hinsicht können sie deshalb als Teil eines vorausgegangenen Satzes aufgefaßt werden.

Schließlich gibt es auch Texrsegmente, die weder implizit noch explizit auf einem Satz im grammatischen Sinn beruhen. Es handelt sich hier um Ausdrücke ohne Satzwert (wie Anreden, Grußformel, feste Wendungen etc.), da sie durch die ausdrucksorientierte Satzdefinition nicht erfasst werden können.

Die inhaltsorientierte Satzdefinition als grammatischer Satzbegriff

Neben ihrer Ausdrucksseite besitzen Sätze auch eine Inhaltsseite, die sich vor allem auf die Bedeutungs- und Aussageebene eines Satzes bezieht. Den von einem Satz ausgedrückten Sachverhalt bezeichnet die Linguistik als Proposition.

SEARLE hat zwischen der illokutiven Rolle und dem propositionalen Gehalt einer Äußerung unterschieden. Die Sprechhandlung, die ein Satz wie „Ich verspreche dir, dass ich morgen komme“ gliedert sich demzufolge in zwei Teile:

  • „Ich verspreche dir … “ ist der illiókutionäre Akt, die Rolle.
    Dieser erste Teil enthält den Indikator des Sprechhandlungstyps, der den Kommunikationsmodus bezeichnet, das heißt die Beziehung, die ein Sprecher zu einem Hörer mit der Äußerung dieses Satzteiles herstellt.
  • „… dass ich morgen komme“ ist der propositionale Akt, der Gehalt.
    Der zweite, grammatisch abhängige Teil der Äußerung gliedert sich in die Referenz, das heißt die Setzung eines Kommunikationsgegenstandes (ich), und in die Prädikation, das heißt die Zuordnung der Eigenschaften zum gesetzten Gegenstand (morgen kommen).

In syntaktischer Hinsicht wird die Referenz durch Eigennamen oder Pronomen und andere Nominalgruppen, die Prädikation durch Prädikate realisiert. Aus der Unterscheidung zwischen Illokution und Proposition folgt, dass ein Sprecher in seinen Äußerungen bestimmte Relationen zwischen Referenz und Prädikation herstellt.
Der Begriff der Proposition ist sowohl für die Analyse der grammatischen als auch der thematischen Struktur eines Textes grundlegend.

Zusammenfassung

Die Unterscheidung zwischen Textsegment, Satz und Proposition ermöglicht es den Begriff Satz zu präszieren.
Die Begriffe Textsegment, Satz und Proposition sind eng aufeinander bezogen. Dennoch besteht zwischen ihnen keine 1 : 1-Entsprechung, sondern sie repräsentieren vielmehr verschiedene Schichten einer Äußerungsstrukur:

  • Textsegmente sind Gliederungseinheiten der Textoberfläche.
  • Sätze sind syntaktische Struktureinheiten.
  • Propositionen sind semantische Struktureinheiten.

Grammatische Bedingungen der Textkohärenz
Formen der Wiederaufnahme

Vereinfacht ausgedrückt lässt sich zwischen expliziter und impliziter Wiederaufnahme unterschieden:

Die Explizite Wiederaufnahme

Die explizite Wiederaufnahme besteht in der Referenzidentität, das heißt: der Bezeichnungsgleichheit bestimmter sprachlicher Ausdrücke in aufeinanderfolgenden Sätzen.
Ein Wort, eine Wortgruppe oder ein bestimmter Ausdruck wird in den oder einem der nachfolgenden Sätze des Textes in Referenzidentität bzw. Koreferenz wiederaufgegriffen /  wiederaufgenommen.

Koreferenz bedeutet: der wiederaufgenommene Ausdruck (der Bezugsausdruck) und der wiederaufnehmende Ausdruck müssen sich auf das gleiche außersprachliche Objekt beziehen (den Referenzträger). Referenzträger können sein: Personen, Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse, Handlungen, Vorstellungen etc.

Eine Wiederaufnahme erfolgt:

  • durch Wiederholung (Repetition) desselben Substantivs (Mann statt Eigenname);
  • durch ein oder mehrere Substantive bzw. substantivische Wortgruppen (Jurist statt Eigenname; Fahrzeug statt Auto; Betrunkener bzw. Gefangener statt Mann);
  • durch ein bestimmtes Personalpronomen (er statt Mann).

Der Signalwert des Artikels: bekannt versus nicht-bekannt

Da der Signalwert eines Artikel nicht unbedingt textgebunden sein muss, ist die Identifizierung des Referenzträger als vorerwähnt bzw. nicht-vorerwähnt unzureichend. Bekanntheit des Referenzträgers, die Textkohärenz verbürgt, kann innertextlich oder außertextlich begründet sein: der Artikel sagt darüber nichts aus.

Die Neueinführung des Referenzträgers durch ein Sustantiv oder eine substantivische Wortgruppe: ein Mann; ein Auto; ein alter Mann aus Minden enthält das Merkmal unbekannt = unbestimmter Artikel: EIN.

Die Wiederaufnahme des Referenzträgers durch dasselbe Substantiv: Mann statt Mann oder durch ein anderes Substantiv enthält das Merkmal bekannt = bestimmter Artikel: DER.

Substantive werden überhaupt nur als sprachliche Wiederaufnahme identifiziert, wenn sie das Merkmal definit tragen, das heißt entweder Eigennamen sind oder bestimmte Artikel bzw. ihm entsprechende Formen wie Demonstrativpronomen (dieser), zum Teil auch Interrogataivpronomen (welcher), bei sich haben. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, ist nicht garantiert, dass sich eine Wiederaufnahme noch auf denselben Referenzträger bezieht, keine Identität mehr besteht. Da in diesem Fall scheinbar von beispielsweise zwei verschiedenen Männern oder Fahrzeugen die Rede zu sein scheint, kann von Textkohärenz nicht mehr die Rede sein.

Merkmale, die generell das Merkmal definit tragen sind Eigennamen, generell verwendete Gattungsnamen (wie der Mensch schlechthin, das Tier im Unterschied zum Menschen) und sogenannte Unika (zur Bezeichnung nur einmalig vorkommender Referenzträger wie der Mond, die Sonne usw.). Ihr Bekanntheitsgrad hängt mit einem allgemein voraussetzbaren Vorwissen zusammen.

Zusammenfassung

Der Artikel schafft weder Bekanntheit noch Unbekanntheit; er ist für den Hörer (Leser) lediglich ein Signal, dass der Sprecher (Autor) bestimmte Informationen beim Hören (Lesen) als bekannt oder nicht bekannt voraussetzt. Die vorausgesetzten Informationen können inner- oder außertextlicher Art sein.

Welche Bedingungen muss ein sprachlicher Ausdruck (Substantiv oder Pronomen) erfüllen, um in der beschriebenen Weise in nachfolgenden Sätzen wiederaufgenommen werden zu können?

Wenn wir von der unproblematischen Wiederaufnahme durch dasselbe Wort, der sogenannten Repetition, einmal absehen, sind hinsichtlich der gerade formulierten Frage zwei Möglichkeiten zu unterscheiden:

  • eine Wiederaufnahme durch andere Substantive oder substantivische Wortgruppen.
    Zwischen wiederaufgenommenen Substantiven müssen bestimmte Bedeutungsbeziehungen bestehen. Ein wiederaufnehmendes Substantiv muss zwar nicht bedeutungsgleich (synonym), wenigstens jedoch bedeutungsähnlich sein.

Beispiel 1:
Die Substantive Jurist und Fahrzeug sind Oberbegriffe zu den spezifischeren Begriffen Rechtsanwalt und Auto. Während die erste Gruppe ein größeres Bedeutungsspektrum enthält, verfügt die zweite Gruppe über ein spezifischers Bedeutungsspektrum und kann so einen größeren Bedeutungsumfang ausdrücken.
Bedeutungsbeziehungen dieser Art bestehen unabhängig von einem bestimmten Text, sondern gelten allgemein in einem Sprachsystem.

Beispiel 2:
Die Substantive Mann, Facharbeiter, Betrunkener, Gefangener beziehen sich auf diegleiche Person. Zwischen diesen Wörten bestehen aber keine besonderen, im Sprachsystem vorgegebene Bedeutungsbeziehungen. Die referenzidentische Beziehung zwischen diesen Wörtern wird speziell durch den besonderen Text aufgebaut – die textimmante Beziehung dieser Wörter hat also nicht in Bezug auf jeden Text Gültigkeit. Dass ein Leser diese verschiedenen Ausdrücke auf dieselbe Person beziehen kann, liegt an der regelhaften Abfolge von unbestimmten und bestimmten Artikeln sowie daran, dass andere Möglichkeiten der Bezugnahme nicht vorhanden sind.

Zusammenfassung

Beispiel 1:
Die Ausdrücke mit dem größeren Bedeutungsumfang, die sogenannten Oberbegriffe sind die wiederaufnehmenden Ausdrücke, während die Wörter mit der spezifischeren Bedeutung als Bezugsausdrücke fungieren, vereinfacht formuliert: In der Wiederaufnahmerelation folgt der Oberbegriff auf den Unterbegriff (1) und nicht umgekehrt (2).

  • (1) Um die Ecke kam ein Auto. Das Fahrzeug fuhr viel zu schnell.
  • (2) Um die Ecke kam ein Fahrzeug. Das Auto fuhr viel zu schnell.

Die in Beispiel 1 definierte Wiederaufnahmebeziehung gilt nur für die Wiederaufnahme von Wörtern, die durch im Lexikon festgelegte Bedeutungsbeziehungen verbunden sind.

Die Wiederaufnahme durch ein Pronomen:
Für eine pronominale Wiederaufnahme können Personalpronomen der 3.Person (er, sie, es), Demonstrativpronomen (dieser, jener, der), sofern sie nicht als Begleiter von Substantiven, das heißt in Artikelfunktion vorkommen, oder Adverbien (da, dort, damals deshalb), unter denen die sog. Pronominaladverbien (dabei, darin, darauf, damit, hierdurch, worin usw.) eine besonders große Gruppe bilden, verwendet werden.
In der Textlinguistik werden alle diese Ausdrücke mit dem Terminus Pro-Form bezeichnet.
Pro-Formen sind all diejenigen Pronomen und Adverbien, die aufgrund ihres minimalen Bedeutungsinhalts dazu dienen, andere sprachliche Ausdrücke referenzidentisch wieder aufzunehmen.

Die Wiederaufnahme von Sätzen oder Satzfolgen:
Auch Bezugseinheiten von unterschiedlicher Ausdehnung können durch Pro-Formen wiederaufgenommen werden. Nicht nur Wörter und Wortgruppen, sondern auch Sätze und Satzfolgen, Informationseinheiten unterschiedlicher syntaktischer Prägung, werden durch Pro-Formen wiederaufgenommen.

  • die Richtung der Wiederaufnahme in der Linearität von Texten:
    1) In den bisher angeführten Beispielen liegt eine Rechts-Links-Wiederaufnahme vor, das heißt, die Pro-Form folgt in allen Fällen dem Bezugsausdruck. Die Textlinguistik spricht in diesem Fall von einer Rückwärtsverweisung und nennt die Pro-Formen, die im Text vorangegangene sprachliche Einheiten wieder aufnehmen, anaphorische (zurückverweisende) Pro-Formen.
    2) Es gibt aber auch die entgegengesetzte Möglichkeit, die als Vorwärtsverweisung bezeichnet wird. Sie wird durch die sogenannten kataphorischen (vorausweisenden) Pro-Formen geleistet. Eine typische kataphorische Pro-Form ist zum Beispiel der Ausdruck folgendes.

Anaphorische Pro-Formen können aber auch auf kataphorische Weise eingesetzt werden.
Die anaphorische und kataphorische Verknüpfungsrichtung wird häufig mit einander kombiniert .
Die kataphorische Textverknüpfung ist besonders dazu geeignet, beim Leser Spannung und die Erwartung auf neue Informationen zu wecken.

Die implizite Wiederaufnahme

Die implizite Wiederaufnahme ist dadurch gekennzeichnet, dass zwischen dem wiederaufnehmenden Ausdruck (in der Regel ein Substantiv oder eine substantivische Wortgruppe) und dem wiederaufgenommenen Ausdruck keine Referenzidentität besteht. Beide Ausdrücke beziehen sich auf verschiedene Referenzträger, das heißt es wird von verschiedenen Gegenständen gesprochen, zwischen denen jedoch bestimmte Beziehungen bestehen. Von diesen ist die Teil-Von-Relationen oder die Enthaltensein-Relationen die wichtigste.

Beispiel 1: Implizite Wiederaufnahme

  • Am 8.November 1940 kam ich in Stockholm an. Vom Bahnhof fuhr ich zu Schedins Pension in der Drottinggata, wo Max Bernsdorf ein Zimmer für mich bestellt hatte …
  • Das graue Geschäftshaus, in dem Johannes Friedemann aufwuchs, lag am nördlichen Tore der alten, kaum mittelgroßen Handelsstadt. Durch die Haustür betrat man eine geräumige, mit Steinfliesen versehene Diele, von der eine Treppe mit weißgemaltem Holzgeländer in die Etagen hinaufführte. Die Tapeten des Wohnzimmers im ersten Stock zeigten verblichene Landschaften …

Wenn hier der bestimmte Artikel gebraucht wird, so muß die Bekanntschaft etwa des Bahnhofs aus der Bekanntschaft von Stockholm, die Bekanntschaft der Haustür, der Etagen, des Wohnzimmers im ersten Stock des grauen Giebelhauses folgen: Stockholm und das graue Giebelhaus werden eingeführt; damit sind zugleich auch der Bahnhof (von Stockholm) bzw. die Haustür, die Etagen, das Wohnzimmer im ersten Stock des grauen Giebelhauses eingeführt.

Beispiel 2: Umwandlung in eine explizite Wiederaufnahme

  • Am 8.November 1940 kam ich in Stockholm an. (Dort gab es einen Bahnhof). Vom Bahnhof fuhr ich …
  • Das graue Geschäftshaus, in dem Johannes Friedemann aufwuchs, lag am nördlichen Tore der alten, kaum mittelgroßen Handelsstadt. (Dieses Haus hatte eine Haustür, Etagen, ein Wohnzimmer im ersten Stock usw.). Durch die Haustür betrat man …

Zwischensätze dieser Art sind grundsätzlich möglich, führen aber leicht zu einer infantilisierenden Wirkung des Textes, weil die aufgeführten Gegenstandbezeichnungen im heutigen Sprachsystem, das heißt im Sprachbesitz, in der Sprachkompetenz des Sprachteilhabers verankert sind. Dem Ausdruck Stadt werden in der Sprachkompetenz unter anderem das Merkmal Bahnhof, dem Ausdruck Haus Merkmale wie Haustür, erster Stock, Wohnzimmer etc. mitgegeben.

In der textlinguistischen Forschung fasst man solche Bedeutungsbeziehungen zwischen Wörten unter dem Terminus semantische Kontiguität zusammen, der begriffliche Nähe bzw. inhaltliche Berührung bedeutet. Wie bereits ausgeführt handelt es sich dabei um Enthaltensein-Relationen (z.B. Bahnhof ist in Stadt enthalten, Chefarzt gehört zu Krankenhaus).
Kontiguitätsverhältnisse zwischen Wörtern können ontologisch, logisch oder kulturell begründet sein:

  • logisch (begrifflich) begründetes Kontiguitätsverhältnis =
    Niederlage:Sieg; Aufstieg:Abstieg; Problem:Lösung; Frage:Antwort
  • ontologisch (naturgesetzlich) begründetes Kontiguitätsverhältnis =
    Blitz:Donner; Mensch:Gesicht; Elefant:Rüssel; Kind:Mutter
  • kulturell begründetes Kontiguitätsverhältnis =
    Straßenbahn:Schaffner; Stadt:Bahnhof; Kirche:Turm; Haus:Türen; Krankenhaus:Chefarzt

Die aufgeführten Begriffspaare realisieren sich in Satzfolgen, wie z.B.:
— Wir hatten einen mühsamen Aufstieg. Der Abstieg war aber viel leichter.
— Morgen muß ich eine Prüfung ablegen. Der Prüfer ist mir nicht wohlgesinnt.

Sind solche Kontiguitätsbeziehungen im sprachlichen System nicht vorhanden, so ist eine Verknüpfung in der Form der impliziten Wiederaufnahme nicht möglich. Die Satzfolge Hans betrat ein Haus. Das Mädchen schrie laut wird dann Befremden auslösen im Unterschied zu Hans betrat ein Haus. Die Tür quietschte laut.
Solche Verknüpfungen werden nur akzeptiert, wenn irgendwo im Text die Merkmalsbeziehung zwischen Hans (einem bestimmten Haus) und Mädchen (einem bestimmten Mädchen) hergestellt wird, wenn irgendwo eingeführt wird, dass bei diesem Haus ein Mädchen zu erwarten ist. Im Gegensatz zu Stadt-Bahnhof ist also die Beziehung Haus-Mädchen keine Erscheinung des Sprachsystems, sondern der aktuellen Sprachverwendung.

HARWEG spricht in den gerade behandelten Zusammenhängen der Wiederaufnahmeverfahren von syntagmatischer Substitution und präsentiert ein System von Substitutionstypen, von denen die beiden folgenden die wichtigsten sind:

  • Identitätssubtitution: die Wiederaufnahme durch Synonyme (im Sinne der expliziten Wiederaufnahme nach BRUNNER)
  • Kontiguitätssubstitution: Formen der impliziten Wiederaufnahme (im Sinne der Enthaltensein-Relation nach BRUNNER)

HARWEG gründet auf das Prinzip der Wiederaufnahme seinen Textbegriff, wenn er Text definiert als eine Folge von Sätzen,die im Sinne syntagmatischer Substitution miteinander verbunden sind (1968:8).

Die BEDEUTUNG des Prinzips der WIEDERAUFNAHME
Zur RELEVANZ für die TEXTKOHÄRENZ

Obwohl das Prinzip der Wiederaufnahme ein wesentliches Merkmal der Textkonstitution ist, liefert es weder hinreichende noch notwendige Bedingungen dafür, dass eine Folge von Sätzen kohärent ist.
Das folgende Beispiel ist zwar im Sinne dieses Prinzip konstruiert, kann aber trotzdem nicht als kohärent gelten, da der Text kein einheitliches Thema erkennen lässt. Störend wirkt sich außerdem die Inkongruenz der Zeitformen aus: Perfekt, Präsens und Imperfekt sind nicht harmonisch abgestimmt:
Ich habe eine alte Freundin in Hamburg getroffen. Dort gibt es zahlreiche öffentliche Bibliotheken. Diese Bibliotheken wurden von Jungen und Mädchen besucht. Die Jungen gehen oft in die Schwimmbäder. Die Schwimmbäder waren im letzten Jahr mehrere Wochen geschlossen. Die Woche hat sieben Tage usw. usw …

Eine kohärente Satzfolge kann aber trotz fehlender Verknüpfung der einzelnen Sätze durch Wiederaufnahme vorliegen:
(1) Das einzige, was Herr Keuner über den Stil sagte, ist: Er sollte zitierbar sein.
(2) Ein Zitat ist unpersönlich. (3) Was sind die besten Söhne? (4) Jene, welche den Vater vergessen machen.
Die beiden letzten Sätze (3 und 4) sind nicht mit dem vorhergehenden durch das Prinzip der Wiederaufnahme verknüpft. Dennoch liegt eine kohärente Satzfolge vor, da die Substantive Stil und Söhne metaphorisch gebraucht werden. BRECHT meint in seinem Aphorismus: Stil sollte unpersönlich sein wie ein Zitat. Der beste Stil ist jener, der den Verfasser vergessen läßt.

Auch den folgenden Sätzen fehlen syntaktisch-semantische Verknüpfungen. Trotzdem können sie als kohärente Folgen, also als Text eingestuft werden:
(1) Die Lampe brennt nicht. Die Sicherung ist durchgebrannt.
(2) Es hat ein Unglück gegeben. Zwei Autos sind zusammengestossen.
(3) Es war eine regnerische Nacht. Zwei Männer standen in einem Hauseingang und rauchten.
In Beispiel (1) liegt eine kausale Verknüpfung vor, in Beispiel (2) kann der im zweiten Satz mitgeteilte Sachverhalt als Ursache der im ersten Satz ausgedrückten Proposition aufgefaßt werden. Die im zweiten Beispiel vorliegende Verknüpfungsbeziehung entsteht durch die Spezifizierung des Ausdrucks ein Unglück durch die Proposition des zweiten Satzes, die mit das Unglück bestand darin, daß …  einleiten kann. In Beispiel (3) dagegen gibt der erste Satz die Situation, den situativen Rahmen, für die Handlung des zweiten Satzes an.
Solche Fälle wurden von ISENBERG als Vertextungstypen zusammengefaßt (1968:198).

Eine ebenfalls wichtige Verknüpfungsmöglichkeit ist die Textverknüpfung durch Konjunktionen (z.B. und, denn, weil, oder etc.):
Das sprudelnde Boxazin S hilft rasch schmerzstillend und bei Erkältungen auch fiebersenkend. Denn vollkommen in Wasser gelöste Wirkstoffe kann der Körper schnell verwerten. Und soviel Vitamin C wie aus sieben Zitronen stärkt die Widerstandskraft und macht wieder frisch …
Auch Adverbien, die nicht als Pro-Form einzustufen sind, können Textkohärenz bewirken (z.B. auch, vielmehr, also, dennoch etc.).

Zur Relevanz des Textverstehens

Aus welchem Grund nimmt ein Hörer oder Leser an, dass zwischen bestimmten Ausdrücken in aufeinanderfolgenden Sätzen eine Wiederaufnahmebeziehung besteht?
Indizien, die Wiederaufnahme ankünden sind grammatischer, und d.h. sowohl syntaktischer als auch semantischer Art? Semantisch gesehen unterscheidet man textimmanente, sprachimmanente und sprachtranszendente Indizien für Wiederaufnahmebeziehungen:

  • textimmanent bedeutet: die Beziehung zwischen Bezugsausdruck und wiederaufnehmendem Ausdruck wird im Text selbst hergestellt – sie ist in dieser Form nicht im sprachlichen System verankert:
    Auf ungewöhnliche Weise wollte ein 43 Jahre alter Mann aus Pforzheim in der Nacht zum Donnerstag Selbstmord begehen. Wie die Polizie mitteilte, war der Facharbeiter nach Streitigkeiten in seiner Wohnung in Notarrest gebracht worden. Dort leerten die Beamten dem Betrunkenen vorschriftsmäßig die Taschen, um Dummheiten des Gefangenen zu verhindern …
    sprachimmanent bedeutet: die Beziehung zwischen Bezugsausdruck und wiederaufnehmendem Ausdruck ist im Sprachsystem verankert. Hierzu gehören die schon besprochenen semantischen Relationen der Synonymie, der Hyperonymie, der Hyponomie sowie der Kontiguität.
    sprachtranszendent bedeutet: die Beziehung zwischen Bezugsausdruck und wiederaufnehmendem Ausdruck transzendiert das Sprachsystem im engeren Sinne und gründet auf enzyklpädischen Erfahrungen und Kenntnissen der Kommunikationspartner, d.h. auf einer Semantik im weitesten Sinne, die das Erfahrungswissen und die Weltkenntnis von Sprecher und Hörer mit einschließt. Der Text wird in solchen Fällen nur als kohärent verstanden, wenn der Hörer auch über die Kenntnisse verfügt, die der Sprecher bei ihm voraussetzt.
    Es ist in der Regel meistens mehr als problematisch, zwischen a-2 und a-3, d.h. sprachimmanent (innersprachlich: im Sprachsystem verankert; lexikalisches Wissen) und sprachtranszendent (außersprachlich: allgem. Weltkenntnis; enzyklopädisches Wissen), eine deutliche Grenze zu ziehen.
  • Syntaktisch gesehen leisten die Artikelformen sowie die in Artikelfunktion auftretenden Pronomen (Demonstrativ-, Personal- und Interrogativ-Pr.) nicht nur eine zusätzliche, sondern oft sogar notwendige Determinationshilfe.

Wenn auch das Prinzip der Wiederaufnahme keine absolut zwingende Bedingung für Textkohärenz ist, so müssen dort, wo es angewendet wird, bestimmte grammatische Regeln und Bedingungen eingehalten werden. Die Nichtbeachtung dieser Bedingungen erschwert das Textverstehen und führt zu Mißverständnissen.

Zusammenfassung

  • Das Prinzip der Wiederaufnahme stellt nicht das einzige Mittel der Satzverknüpfung dar, das für die Textkohärenz relevant ist.
  • Grammatische Verknüpfungssignale sind bei der Textproduktion dann entbehrlich, wenn Rezipient und Emittent über ein ausreichendes thematisches und kontextuelles Hintergrundwissen verfügen.
  • Das Kohärenzproblem eines Textes ist somit nicht in letzter Instanz durch grammatische Verknüpfungsregeln zu erklären. Die Wiederaufnahmestruktur fungiert vielmehr als Trägerstruktur für die thematischen Zusammenhänge des Textes; sie verweist v.a. auf die thematische Textstruktur.

Thematische BEDINGUNGEN der TEXTKOHÄRENZ
WIEDERAUFNAHMERELATION und thematische TEXTSTRUKTUR

wird fortgesetzt