Blatt Drei: Bali

8. Oktober – 8. November 1990

Mit Ibu Mas, Sprachlehrerin im Sua Bali in Denpasar, vereinbarte ich schon am vorletzten Tag in Kuta, heute mit dem Sprachunterricht zu beginnen. Wir verabredeten uns in ihrem Haus im Desa Kemenuh, mit dem Bemo eine halbe Stunde von Peliatan entfernt.
Ibu hat in Europa gelebt, spricht Englisch, Französisch und Italienisch. Das Heimweh brachte sie nach Bali zurück. Und die seltsame Lebensweise der Europäer.

In den kommenden vier Wochen unterrichtet sie mich jeden Tag zwei Stunden in Bahasa Indonesia. Außer Sonntags. Gemeinsam arbeiten an meinem universitären Schriftsprachen-Indonesisch. Gestalten es allmählich kommunikabel. Für den umgangssprachlichen Gebrauch. Small Talk. Ein Indonesisch für Straße und Reisfeld.

Im dörflichen Bali kann ich mich nur mühsam und umständlich unterhalten. Mein Indonesisch ist rheinisch gefärbt. Der Akzent zu grob für das feine balische Ohr. Tidak halus, sondern terlalu kasar. Nicht dramatisch, aber unschön klingend. Ich wünsche es mir alltagstauglicher. Hautnah, dem Balier näher.
Am Ende des Unterrichts, verspricht mir Ibu Mas, verstehe ich in normalem Tempo gesprochenes Indonesisch mühelos. Sie versprach zu viel. Omong kosong. Keine europäische Schule.

In den ersten Tagen frustriert mich der Unterricht. Ibu Mas stellt sich auf meine Sprachkenntnisse ein. Sie nervt mich mit Anfängerübungen, die mich nicht fordern und langweilen. Sie braucht drei Tage um meine Sprachkenntnisse richtig einzuschätzen. Verlorene Zeit, die teuer ist. Sieben US-Dollar die Stunde.Der Wechselkurs beträgt 1,64 Deutschmark den Dollar. Erst am Ende der ersten Woche steigert sie die Anforderungen. Zufriedengestellt bin ich keineswegs. Ich bekomme das Gefühl, sie bereitet sich nicht vor. Sie stellt sich nicht auf meine speziellen Bedürfnisse ein. Ich befürchte inzwischen, in den vereinbarten vier Wochen nichts zu erreichen. Nicht viel mehr, als ich bereits mitbringe. Auf meine Kritik geht Ibu Mas nicht ein.

Kemenuh ist ein relativ großes Dorf, im Dreieck zwischen Sakah und Blabatuh gelegen. Jeden Morgen um halb sieben fahre ich mit dem Bemo ins neun Kilometer entfernte Sakah. An einer Kreuzung wechsele ich das Bemo ins noch zwei Kliometer entfernte Kemenuh.
Das Haus von Ibu Mas ist das letzte am Ende eines unasphaltierten Wegs, der parallel zur Hauptstraße Kemenuhs verläuft. Ibu Mas kehrte vor fünf Jahren aus Europa zurück. Sie lebte in Frankreich, Italien und England und studierte die Landessprachen. Nach ihrer Rückkehr kaufte sie das Grundstück auf dem jetzt ihr Haus steht und siedelte sich hier an. An das Grundstück grenzt eine tiefe, enge Schlucht. Jenseits davon erstrecken sich Reisfelder soweit das Auge reicht.
Erst viel später erkannte sie, dass sie für wenig Geld ein verrufenes Stück Land gekauft hatte das sonst niemand wollte.
Die Alten im Dorf flüsterten hinter vorgehaltener Hand, dass die Schlucht einer Geisterweg ist. Totenseelen und Dämonen benutzten die Schlucht als Weg ins Dorf und wieder hinaus. Ibu Mas, noch vom rationalistischen Denken Europas beeinflusst, setzte sich anfänglich über solches Gerede hinweg. Inzwischen, nach fünf Jahren Bali, hat sie ihre ethnische Identität wieder eingeholt. Zielsicher, als ob sie sie erwartet hat.
Inmitten der überwältigen großartigen Naturkulisse der Insel der Götter und Dämonen scheiterte ihr aufgesetzter, aus dem Westen importierter Rationalismus. Balische Wahrnehmung und Wirklichkeit sind unvergleichbar anders. An bestimmten Orten geradezu in der Luft liegende Atmosphären setzen auch mir immer mehr mit ihren eigenartigen Anmutungen zu.

Beginne auch ich hier an Geister zu glauben? Seltsame Schauer, ängstliches Zaudern und unheimlich Irritierendes kenne ich inzwischen aus der Umgebung von Tempeln.
Ibu Mas hat akzeptieren müssen, dass die Schlucht, an der ihr Grundstück grenzt, eine Übergangszone zwischen verschiedenen Realitäten ist. Sie hat ihr Haus an der Schnittstelle zwischen dem Hier und dem Dort gebaut. Sie hört nächtens die Passanten aus dem Irgendwo die Schlucht durchqueren, lauscht eigenartigen Geräuschen und unverständlicher Rede. Mal ziehen Einzelne an ihrem Haus vorbei, mal sind es Prozessionen. Manche Nacht lärmt es um ihr Haus herum. Sie fühlt sich belästigt, ängstigt sich zu weilen und sieht ihren Hund mit eingezogenem Schwanz sein Versteck aufsuchen. Szenen aus einem Gothic-Schauerroman, einem Hollywood-Horrorstreifen. In ihrer Not sucht sie Hilfe bei javanischen Exorzisten. Mich hat sie leider nicth über Nacht zu bleiben eingeladen.

Einige Wochen wandere ich jeden Morgen durch das Dorf zum Haus von Ibu Mas Haus. Jeden Morgen der gleiche Weg, die gleiche Zeit, das gleiche Ritual. Früh am Morgen ist der Weg noch sehr belebt. Kinder gehen zur Schule oder spielen vor den Hofeingängen, Frauen kommen vom Einkauf zurück oder gehen zum Waschplatz. Sie kehren den Eingangsbereich der Höfe und legen Opfergaben nieder. In den Eingängen, an die Kreuzwege und den Göttersitzen. Männer sitzen bei einem flüchtigen Frühstück, einer Tasse Kaffee oder einem Schwatz am Warung. Sie stellen ihre Hähne in großen Flechtkörben in die Sonne, damit diese sich an dem Leben auf der Gasse erfreuen. Tätcheln sie, massieren ihre Waden oder zeigen sie stolz dem Nachbarn. Dieser bringt den seinen auf die Straße und ein rivalisierendes Fachsimpeln beginnt.
Die ersten Tage ernte ich neugierige Blicke. Aber auch Skepsis und Ablehnung. Ein heimliches Wissenwollen schwingt mit. Ein Raunen kriecht mir ins Ohr. Niemand fragt, nicht das übliche „mau ke mana?“. Nur die Hello-Rufe und das Winken der mutigsten der Kinder. Jeden Morgen begleitet es mich bis zu Ibu Mas hinauf.
Erst nach Tagen, ich wandere immer noch jeden Morgen durch den Ort, die ersten Kontaktversuche, die ersten Fragen. Grüße werden ausgetauscht. Ein freundliches Lächeln hier und da. Jeder will jetzt etwas von mir wissen, meine Absichten und PLäne kennen lernen. Informiert werden. Nie war ich jemandem gleichgültig. Es war ihr Dorf. Ich stand von Beginn an unter Beobachtung. Höflich und zurückhaltend zwar, aber kontrolliert. Es war wichtig zu wissen, wer in ihnen Dorf, unmittelbar vor ihrer Türe, in ihrem Privatbereich, herumläuft. Mit welcher Absicht.
Jeden Morgen das gleiche Ritual, die Begrüßung, die Fragen. Erklärungen und Kontakte. Ich entwickele ein Standardrepertoire für die flüchtigen Bekanntschaften und Offenheit für die wirklich Interessierten. Bis schließlich alle zufrieden waren.

Es wundert mich nicht wirklich, dass es Dorfbewohner gab, die noch Wochen später vorgaben, mich nicht zu kennen. Ein unverfänglicher Grund, mich immer wieder anzusprechen und neugierig auszufragen. Grund für weitere Gespräche und vertrautere Nähe zu dem eigenartigen Fremden. Seinem Woher und Wohin auf der Spur. So weit entfernt von Kuta oder Ubud, den Fremdenghettos der Insel.
Ich selbst habe lange den Überblick verloren. Mein europäisches Auge unterscheidet meine neuen Bekannten noch nicht. Das Aussehen der meisten von ihnen erscheint mir irgendwie ähnlich. Von Ibu Mas hörte ich inzwischen, dass meine Anwesenheit im Dorf an den Warungs ein wichtiges Gesprächsthema ist. Man belächelte meine Erklärungen. Niemand nahm meinen Sprachunterricht wirklich erst. Ich war Tourist. Was wollte ich mit Bahasa Indonesia anfangen? So einfach aus der Rolle fallen, die man mir zuwies. Und das in Bali, wo jedes Detail wohlgeordnet und verlässlich ist. Niemand fällt hier aus dem Gewohnten heraus. Es ist viel zu gefährlich, sich außen zu stellen. Auch der Fremde muss in die erwartete Ordnung passen.
Keiner versteht den Aufwand, den ich auf mich nehme. Sie alle lernten Indonesisch en passant. Auf der Straße, auf dem Markt.
Aber mich freuen meine neuen Bekanntschaften. Meine erfreulichen Spaziergänge. Ich genieße den sanften Spießrutenlauf der Blicke die Dorfstraße entlang. Auch die Blicke, die ich nicht sehen, nur spüren kann, sind es, die mich verändern. Sie durchbohrten nicht länger. Sie lächeln freundlich, wenn ich zurückschaue. Ein fast verschwörerischer Hello-Ruf offenbart gemeinsame Sprachkompetenz. Globalisierung in Kemenuh.

Gegen elf Uhr verlasse ich Ibu Mas und gehe zurück zur Asphaltstraße. Steige dort in ein Bemo und fahre zurück nach Peliatian. Der Weg zurück ist einsam. Die Sonne steht fast senkrecht am Himmel. Es ist schattenlos und heiß. Kaum jemand begegnet mir, einige Schulkinder auf dem Nachhauseweg. Erwachsene gehen schnell vorüber. Ich bin jedes Mal erleichtert, wenn ich im Schatten der Tamarinde stehe und auf das nächste Bemo warte.

In Okawatis Warung höre ich von Wayan Sarna. Der wohnt in Ubud und unterrichtet seit Jahren Touristen in Bahasa Indonesia. Unzufrieden wie ich bin besuche ich Wayan und schildere ihm mein Problem mit Ibu Mas. Das Ergebnis, ein dreitägiger Probeunterricht. Ubud ist für mich besser erreichbar, seine Unterrichtsstunden günstiger – fünf Deutschmark die Stunde – inhaltlich noch ineffektiver. Wayan hat noch größere Schwierigkeiten sich auf mich einzustellen, da er meist mit Anfängern arbeitet. Und so gestaltet er meinen Unterricht. Meine Vorkenntnisse irritieren ihn. Er weiß nicht wie er mich unterrichten soll. Frustriert breche ich ab und bleibe bei Ibu Mas. Die spricht auch Deutsch. Ein erheblicher Vorteil wie ich nach meiner Flucht zu Wayan nun weiß. Komplizierte grammatische Fragen lassen sich so komfortabler klären. Also weitere drei Wochen Ibu Mas.

Nach meiner Erfahrung mit Wayan geht es mit Ibu Mas besser. Sie mittlerweile verstanden, dass ich mit ihr diskutieren will. Über Land und Leute. Kultur. Für mich die beste Möglichkeit freier zu sprechen. Im Indonesischen weiter zu kommen.
Drei Wochen Gespräche. Jeden Tag zwei Stunden indonesisch diskutieren. In den ersten Tagen eine echte Herausforderung. Die Schnelligkeit der Rede bringt mich schnell an meine sprachliche Grenze.
Der Unterricht gestaltet sich nun effektiver. Ich lerne neue Wörter, Redewendungen und höre Geschichten, bekomme Informationen, nehme am Dorfklatsch teil. Zuhören, sprechen, verstehen. Mein Credo in diesen Tagen.

In jenen Tagen lerne ich fließender sprechen, Fehler zu vermeiden und mein Gegenüber auch zu verstehen. Jedenfalls weitgehend.
Unsere Themen handeln von meinem Alltag, meinen Erfahrungen in Peliatan und mit den Baliern, meiner Familie. Vergleiche balischer und deutscher Kultur gehören zu den Standards. Wir diskutieren die Probleme von Ibu Mas, die nach fünf Jahren Europa nach Bali zurückkehrte. Sie erzählte von ihrer Schwierigkeiten, sich nach diesen Jahren zu integrieren. Wieder Indonesisch zu werden. Und dazu noch balisch. Eine besondere Herausforderung, mir sehr vertraut. Zwischen Selbstfindung und Kulturschock. In wenigen Wochen lerne ich mehr als Sprache. Lerne ganze Bereiche des ländlichen Bali kennen und verstehen. Alltägliches greifen wir in unseren Gesprächen auf und tauschen Erfahrungen damit aus.

Es ist Mittwoch, der 10.Oktober. Unsere heile Welt bekommt einen Riss. Kassandras Ausschlag kehrt mit unerwarteter Heftigkeit zurück. Der ganze Kopf und ihr Oberkörper ist mit roten Flecken und Puseln bedeckt. Mit dem Moped zum Kinderarzt nach Gianyar. Wayan von Sitis Homestay begleitet uns. Vor einigen Tagen war er mit Komang dort, seiner siebenjährigen Tochter. Erkältet. Während des Übergangs von der heißen zur nassen Jahreszeit sind die Wartezimmer der Ärzte mit erkälteten Patienten überfüllt. Erkältungen haben in dieser Zeit Hochkonjunktur auf Bali.

Die Diagnose ist schnell gestellt. Ein Blick auf Kassandras gerötete, mit Ekzemen bedeckte Haut genügt dem Kinderarzt. Allergie. Auslöser seien Hühnereier. Tage der Abstinenz. Kassandras Haut bessert sich schnell. Eier werden gestrichen. Damit wird ihre Ernährung noch komplizierter. Einheimische Nahrung lehnt sie noch ab.

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