Blatt Zwölf: Jakarta

1.Dezember 1990

Neun Uhr am Morgen. Jl. Teuku Umar, Kantor Imigrasi, Jakarta-Pusat. Der gleiche Beamte, das gleiche sympathische Lachen. Ich muss zurück zur Airport-Imigrasi. Die haben den Pass falsch gestempelt, die müssen korrigieren.
Mit dem Bajaj zum Gambir-Bahnhof. Von dort mit dem Bis Damri zum Flughafen. Eine fürchterlich lange Fahrt. Im Schneckentempo durch das mittäglich verstopfte Jakarta. Auf beiden Seiten der Straße wälzen sich kilometerlange Autoschlangen stinkend und knatternd stadteinwärts und stadtauswärts. Für den Bus kein Durchkommen. Drei oder vier Reihen Autos schieben sich ungeordnet ineinander. Ein Königreich für ein Moped.

Am Flughafen erkennt mich der Imigrasi-Beamte wieder. Sofort weist er alle Verantwortung von sich. Ich hätte Jakarta gesagt. Das war auch fürs erste mein Ziel. Genehmigungen für mein Forschungsprojekt abholen und dann weiter nach Timor. Ein Missverständnis. Stress und Hektik geschuldet. Wessen auch immer. Der Stempel erteilt eine provisorische, vorläufige Aufenthaltsgenehmigung. Drei Tage für Jakarta, sieben für alle anderen Orte Nusantaras. Innerhalb dieser Zeit muss ich mich bei den entsprechenden regionalen Imigrasi-Behörden gemeldet haben. Die sind dann für alles weitere zuständig. Stellen mir die KIM/S, die sogenannte Kartu Kunnig, aus. Meine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Behördlich unter Aufsicht gestellt. Betreuungsprogramm für ausländische Wissenschaftler.

>Sieben Tage. Unzureichend für alles, was noch zu regeln ist. Verdammt! Warum erfahre ich den nächsten Schritt immer erst, wenn er gemacht werden muss. Keine Planung, keine Vorbereitungszeit. Verdammt! Warum schreibt niemand ein Manual: Handbuch für Stipendianten. Wegweiser zur Bewältigung bürokratischer Antragstellung in Indonesien. Das wäre ein Meilenstein in der Arbeit des DAAD in Jakarta.

Sieben Tage für meine Rückkehr nach Bali und den Aufbruch nach Timor. Es scheint kaum möglich in so kurzer Zeit alles zu erledigen.Jakarta abschließen, mich mit Heidrun und Kassandra auf Bali treffen und nach Kupang abreisen. Den Imigrasi-Beamten interessiert das nicht. Er hat seine Vorschriften. Sieben Tage, das vorgeschriebene Limit für N.T.T. Preussisch! Ich gebe nicht auf und er bringt mich kurzer Hand zu seinem Chef. Ist das Problem los. Ich erspare mir eine weitere Diskussion, inzwischen von deren Nutzlosigkeit überzeugt. Beschließe, die gesetzte Frist zu überziehen und mich in Kupang mit den Konsequenzen auseinanderzusetzen. Der Stempel wird lediglich handschriftlich geändert. Das hätte ich selbst erledigt, hätte ich solch lockeren Umgang geahnt. Viel Lärm um Nichts. Einen Tag mit Spiegelfechterei zugebracht. Eine weitere Lektion in Gelassenheit und Hinnahme. Beides würde ich gründlich lernen müssen. Intrakulturelle Sozialisation gratis.

Zurück in der Jl. Jaksa. Wieder Warten. Die bereits vertraute, immer weniger schwer zu ertragende Langeweile.
Später am Nachmittag Herry und Johan kennengelernt. Zwei arbeitslose SMA-Absolventen mit unerfüllbarem Studienwunsch. Geldmangel. Ihre Idee, in der Jl. Jaksa als inoffizielle Fremdenführer das fehlende Geld zu verdienen. Sie taten ihr Bestes, mir eine Führung durch die Stadt aufzuschwatzen. Kein Interesse. Ich lud sie stattdessen zum Abendessen ein. So waren wir alle zufrieden.
Sie lebten in einer Kleinstadt zwischen Jakarta und Bogor, die ich nicht kannte. Ihre Kompetenz, Fremdenführer zu sein, entnahmen sie zwei Broschüren der Tourist Information. Sie erzählten, wie erfolglos sie geblieben waren. Niemand wollte sich von ihnen führen lassen. Sie waren hungrig und ihr Geld reichte nur noch für die Rückfahrt mit dem Zug.
Zwei nette Jungs, voller Optimismus und Ideen. Mit schlechten Chancen, wie die meisten
Oberschulabsolventen, die keine weiterführende Ausbildung finanzieren können. Die keinen angemessenen Arbeitsplatz finden werden. Staatliche Förderung gibt es auch in Indonesien. Für einige wenige. Ein paar Tropfen auf heiße Steine. Die anderen müssen sehen, wie sie alleine über die Runden kommen. Erfolgsgarantie sind Geld und hohe Positionen der
Eltern. Persönliche Fähigkeiten und Ambitionen sind zweitrangig. Ich habe nirgends so viele hochqualifizierte Hilfsarbeiter in allen möglichen Nebenbeschäftigungen getroffen wie in indonesischen Städten.

Fragt man indonesische Oberschulabsolventen nach ihrem Studienwunsch, hört man, dass Wirtschaftswissenschaft das populärste Fach ist. Alles dreht sich um das große Geld und wie man an daran kommt. Money makes the world go round. Auch hier. Träume, Spekulationen, konkrete Pläne. Am Ende die enttäuschende Erkenntnis, dass das große Geld nur für einige da ist. In den Städten steigt die Suizidrate unter jungen Menschen.

2.Dezember 1990

Wieder eine der fürchterlich heißen, fast schlaflosen Nächte. Im Zimmer wabbert die erhitzte Luft bei jeder Bewegung. Das Gefühle vor einem Backofen zu liegen, der irgendwo bei dreißig Grad nicht weiter abkühlt. Ich genieße meine mückenfreie Zone im Bett. Nackt, bei routierendem, knatterndem Ventilator, gerade noch erträglich. Nachts kühlt es nicht ab, der Ventilator dröhnt in der Stille. Ausgeschaltet ist es im fensterlosen Zimmer kaum auszuhalten.
Regenwasser, das in der Nacht und am Vormittags fällt, verdunstet über den Tag verteilt.

Wieder Sonntag. Heute ereignet sich nicht viel. Lesen, schreiben, dösen.

Endlich ein Geschenk für Heidrun. Kranksein und meine depressive Verfassung ließen mir wenig Muße für Einkäufe. Souvenirs. Singapore wäre der richtige Ort gewesen.
Ein Reiseführer aus der Feder von Stefan Loose, nichts Besonderes, aber in Deutsch und der einzig Brauchbare. Heidrun hat damit genug Informationen um die kommenden Ausflüge von Timor aus zusammenstellen. Ein Geschenk für Kassandra? Ich finde nichts Ansprechendes ein.

Interlokal mit Heidrun gesprochen. Ihr von unserem unerwartet plötzlichen Aufbruch nach Timor erzählt. Sie käme damit zu recht, könnte schon alles vorbereiten. Kraft und Stärke, die hat sie.
Ich habe mich gefreut, nach Bali zurückzukehren. Noch zwei weitere Wochen auf dieser schönen Insel. Traurigkeit. Daraus wird nichts mehr. In Kupang wird es hektisch weitergehen. Wer weiß schon, womit die Behörden dort aufwarten. Eine Erholungspause in Bali hätte mir gut getan. Ich bin skeptisch und von der Stadt geschädigt.

Wie wird Kupang sein? Denke ich an Kupang, vergleiche ich es in Gedanken mit Denpasar. Eine Kleinstadt. Ich mache mir zu viel Sorgen um Zukünftiges, kann mich nicht von der Unruhe in mir befreien. Stehe sehr unter dem Eindruck der letzten Erfahrungen und meinen Schwierigkeiten, diese Situation problemlos zu meistern. Viel Energie habe ich verloren. Jakarta, ein einseitiger Kräfteverschleiß. Keine Gelegenheit der kurzfristigen Erneuerung. Kompliziert und umständlich. Immer neue Ungewissheit, wie es weitergeht und was als
nächstes passiert. Keine klaren Auskünfte, keine Hinweise, keine Möglichkeit vorzusorgen. Alles spontan und aus dem Moment. Immer wieder Überraschungen. Meistens unangenehme. Hilflos treibend in Jakarta. Entfremdet und schockiert. Unbestimmbare Kräfte entscheiden Richtung und Ziel. Das ist Jakarta.

3.Dezember 1990

Vor neun Uhr bei LIPI. Noch niemand im Büro für die Peneliti Asing. Ich warte, entdeckte den Vorteil des Wartens. Ich kann mich entspannen und in Ruhe auf das Gespräch vorbereiten. Mich akklimatisieren. Dieses Mal bin ich nicht abgehetzt und verschwitzt.
Pak Sanjoyo kommt um zehn nach neun. Er bringt eine andere Europäerin mit. Gemeinsam warten wir fast noch eine Stunde bis zuerst meine Schreiben fertig sind. Ich bin erlöst. Die Frau Österreich steht noch ganz am Anfang. Ahnungslos, mit falschen Erwartungen und Plänen.
Erfahrungsaustausch. Zum ersten Mal seit zwei Wochen. Die Österreicherin, voller Enthusiasmus, sehr energisch. Ich bekomme den Eindruck, sie wird die Strapazen besser verkraften. Sie plant eine halbjährige ethnologische Forschung auf Kei und Aru. Selbst finanziert. Idealistisch. Das Geld hat sie in der Heimat verdienen müssen. Es ist ihre zweite Forschung in Indonesien. Aha! Sie ist kein Greenhorn mehr. Kennt das wohl alles schon. Wie es hier läuft. Seltsam. Warum erzählt sie nur von unangenehmen Erlebnissen und Erfahrungen? Wovor will sie mich warnen. Abschrecken vielleicht. Sie erzählt nicht von sich. Gibt die Erfahrungen anderer wider. Spricht von in Indonesien verschwundenen Wissenschaftlern, von Problemen mit den lokalen Behörden, von schwierigen Assistenten, unangenehmen lokalen Sponsoren. Hören-Sagen-Geschichten. Nicht vorurteilsfrei.
Mit den lokalen Behörden kenne ich mich selbst aus. Schlimmer kann es wohl kaum noch kommen. Die nächste Erfahrung werde ich am ersten Tag in Kupang machen. Die überzogene Sieben-Tage-Frist.
Sie hofft, noch heute nach Singapore zu fliegen. Das Flugticket hat sie in der Tasche. Ich lasse ihr ihren Optimismus. Ihren Höhenflug können andere bremsen.

Sie erzählt von Kei und Aru. Östliche Molukken. Isolierte Inseln in der Ökumene. Zwei Flüge in der Woche. Von Ambon aus nach Kei. Nach Aru verkehrt alle zwei Monate ein Schiff. Sie steht unter Zeitdruck, wie ich. Darf ihre Transportmittel nicht versäumen. Keine wochenlange Wartezeit auf sich nehmen.
Eine richtige Feldforschungsexistenz, die da auf sie zu kommt. Allein auf sich gestellt im fernen Feld. Ihr liegt nichts an der Zusammenarbeit mit lokalen Institutionen. Sie empfindet das als Beengung. Ich suche diese Zusammenarbeit, fühle mich dem Gastland verpflichtet. Interkulturell und interdisziplinär. Meine wissenschaftlichen Werte. Trotz der Probleme, die das mit sich bringt. Menschliche und institutionelle. Siehe Jakarta. Aber eben nicht nur Probleme. Siehe Pak Sanjoyo und dessen Interesse an meiner Arbeit.

Eine lange Diskussion über die enorme Steigerung des Fernseh- und Videokonsums in Indonesien. Über die Auswirkungen. Den westlichen Videoschrott, der den Markt überschwemmt und das Bild bestimmt, das sich der indonesische Konsument von der westlichen Kultur macht. Mir graut bei dem Gedanken. Gewalt, Habgier und rücksichtsloser Egoismus. Nimmt mich so der Mann auf der Strasse wahr? Reflektiert er die komplexen Zusammenhänge, ohne fehlende Hintergrundinformationen. Wieder fühle ich mich als Botschafter. Hoffentlich verwechselt man mich nicht mit der im Film gezeigten Realität.

Ein nützlicher Tipp? Die Österreicherin machte bei ihren Feldaufenthalten die Erfahrung, es sei sinnvoll, gleichzeitig mehrere Projekte durchzuführen. Einiges funktioniere immer nicht.

Nach einer Stunde bekomme ich ein Schreiben an POLRI in die Hand gedrückt. Dort erhalte ich den wichtigen Surat Keterangan Jalan für Timor. Ein Blick auf den Stadtplan, die Jl. Trunojoyo ist in Kebayoran Baru, Block K. Ein Taxi scheint die beste Alternative zu sein. Ich muss bis Mittags zurück bei LIPI sein, die den fotokopierten Surat Jalan benötigen.
Bei POLRI die übliche Prozedur: Formulare ausfüllen, Pässe vorweisen, Fragen beantworten. Ich kann es kaum glauben, ich bekomme ein Glas kaltes Wasser angeboten. Das erste Mal in zwei Wochen Behördenmarathon Nach einer halben Stunde ein zweites. Ich fühle mich in der Hierarchie. Ein Statusgewinn, folgere ich. Ich muss zuerst in die zentrale Verwaltung der indonesischen Polizei vordringen, um gesteigerter Aufmerksamkeit für würdig befunden zu werden. Zu erfahren, dass Freundlichkeit in der indonesischen Behörde existiert. Nette Leute hier, nicht nur wegen des Wassers. Nach einer kurzen Bearbeitungszeit bekomme ich meinen Surat Jalan.

Während der anderthalbstündigen Wartezeit werden mehrere Surat Jalan beantragt und abgeholt. Ständig wechseln unterschiedlich hohe Geldbeträge die Schreibtischseite. Völlig offen werden Geldgeschenke gemacht. Hinter dem Rücken der Antragsteller machen die Beamten Witze, amüsieren sich.
Ich werde unsicher, frage mich, ob Geldgeschenke üblich sind. Erwartet man Ähnliches von mir. Besser ich gebe nichts. Kenne die Gepflogenheiten nicht. Wegen meiner Unsicherheit besser nicht zu handeln, nichts zu geben, als falsch oder wenig zu geben. Angst zu beleidigen. Zu leicht verliert sich das Gesicht. Korruption ist strafbar.

Endlich. Jetzt noch die zwei Kopien für LIPI. Ich frage und kann sie gleich bei POLRI machen. Mit Geldgeschenk? Will mehr geben, als die Kopien kosten. Mich auch für die problemlose Abwicklung bedanken. Er nimmt kein Geld. Keine tausend Rupiah untuk rokok. Von LIPI zu kommen ist in Jakarta eine Empfehlung. So war es überall. Schon beim ersten Besuch im Kantor Imigrasi.

Keine Ahnung, wo in Jakarta ich bin. Wie ich zu LIPI zurückkomme. Ich steige in das nächste Taxi und sehe ein verändertes Jakarta. Eine Fahrt durch gepflegte Strassen. Hinter hohen, mit Stacheldraht bewehrten Mauern versteckt liegen Häuser und Villen. Wohnen im Park. Eine vornehme, teuere Gegend. Kontrastprogramm zur Jl. Jaksa in der Innenstadt. Stadtrand Jakarta? Nein, Kebayoran Baru.
Bei LIPI geht alles schnell. Ich gebe die beiden Kopien ab. Morgen bekomme ich alle anderen Papiere. Besok lagi. Endlich.

Mit dem Bus in die Jl. Jaksa. Ein viel zu teures, viel zu schlechtes Mittagessen. Feierstimmung. Beim Essen die Einstimmung auf die bevorstehende Jahreszeit. Hari Natal und Tahun Baru. Weihnachtstrubel amerikanisch. Auch in Jakarta. Spezielle Musik,
spezieller Raumschmuck. Air-Condition liefert die Kälte dazu. Das Essen kühlt schneller ab, als ich essen kann.
Nach dem Essen ein Anruf beim DAAD. Elfi Erdmann ist aus dem Urlaub zurück. Ich verabrede mich mit ihr nächsten Tag. Will mit ihr noch einmal alles besprechen. Nachlese und Ausblick.
Nebenbei erzählt sie mir, ich sei der erste Stipendiat hier in Jakarta. Ihre erste Zusammenarbeit mit LIPI. Orginalton: Wir sind neu hier. Uns gibt es erst seit April. Bisher hat uns noch niemand richtig wahrgenommen. Warum sagt mir das denn niemand? Woran liegt die mangelnde Wahrnehmung?
Eine Erkenntnis, die nicht weiterhilft: Ich bin der erste Stipendiat, den der DAAD in Jakarta betreut. Der erste, der einen Forschungsantrag bei LIPI gestellt hat, der vom DAAD finanziert wird.
Eröffne ich eine Ära?
Bin ich die störende Ausnahme, der Narr des Schicksals?
Der erste zu sein, ich hoffe nicht der einzige, kostete mich 1.223.000 Rupiah zu einem Kurs von 1240 Rupiah für die Mark. Selbst finanziert. Das Stipendium wird erst ausgezahlt, wenn die Kostenzusage erteilt ist.

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