Die metaphorische Rede vom Herzen

Damit Dein Herz versteht und Dein Bauch begreift! Die Bedeutung von nekan (Herz) in Amanuban

Und nun unser letztes Wort, ihr Männer und ihr Frauen mit dem
weissen Leibesbild! Wir Menschen der Indonesischen Erde haben
euch die Töne unseres Herzens vernehmen lassen. Belauscht nun
vergleichend euer Herz, und ihr werdet die gleichen Töne hören.

Ja, sie sind gleichen Wesens, gleicher Würde,
unser Herz und das eurige
. (R. Brandstetter 1927, 30)

1. Vorbemerkung

Gegenstand dieser Untersuchung ist die Erörterung der semantischen Tragweite von nekan (Herz) in Alltagssprache und mündlicher Dichtung der Atoin Meto in Amanuban. 1 Amanuban, heute ein Landkreis (kecamatan) im indonesischen Südwesttimor, hat bis auf seinen Namen viel von seinem früheren Glanz verloren. Ehemals ein politisch autonomes Territorium des Atoin-MetoAdels, über 300 Jahre unter der Hegemonie der Nope-Dynastie, war Amanuban einer der zehn kleinen, feudal-monarchischen Staaten Westtimors.

Die Atoin Meto sind eine Mittelgebirgspopulation, die das ganze zentrale Bergland Westtimors besiedelt. Diesen Siedlungsraum nennen sie selbst das trockene Land (pah meto). Als dominierende Bevölkerung verteilen sie sich auf zehn traditionelle Territorien mit einer informellen, politischen Infrastruktur, die parallel zur indonesischen Administration existiert. Die Grundlage dieser Struktur bilden die sozialen Beziehungen einflußreicher Namen-Gruppen (bzw. Klans). Die große Mehrheit dieser Bevölkerung lebt in lokalisierten Weilern (kuan), die von der indonesischen Verwaltung zu großflächigen Dörfern (desa) zusammengefaßt wurden. Der Rhythmus der jährlichen Schwankungen der nassen und trockenen Jahreszeit bestimmt und reguliert die Gesamtheit des Lebens in diesen Siedlungen. Die Atoin Meto betreiben Brandrodungsfeldbau und Subsistenzwirtschaft. Die meisten Haushalte hängen existentiell von Haus- und Feldgärten ab, in welchen sie hauptsächlich Mais und verschiedene Gemüsesorten anbauen. In jedem Weiler bilden kooperative, patrilinear verwandte Haushalte (ume) den Fokus der ökonomischen, sozialen und rituellen Aktivitäten. Sind diese Aktivitäten übergeordneter Natur ist die Namen-Gruppe (kanaf) die durchführende Gemeinschaft. Alle Atoin Meto sind durch ihren Namen Mitglied in einer dieser patrilinearen und exogamen Verbände. Diese beziehen sich auf ein definiertes Territorium (pah ma nifu), das aus einer Vielzahl von benannten Orten besteht. Die Geschichte dieser Orte reicht bis in den unmittelbaren Alltag der Atoin Meto hinein. Sie erinnert ihn an längst vergangene Ereignisse und verleiht seiner Namen-Gruppe Bestand und Identität.

2. Mündliche Dichtung und rituelle Rede in Amanuban 2

Historische Ereignisse und Begebenheiten überliefern die Dichter-Sprecher (atonis) 3 der Atoin Meto in mündlichen Dichtungen (tonis), deren Bühne die Rituale des Lebenszyklus sind. Diese Dichtungen entstehen in Amanuban bis heute nicht im Milieu schriftlicher Textproduktion. Ganz im Gegenteil: Für die Komposition und Überlieferung ihrer Dichtungen bedient sich der Dichter-Sprecher ausschließlich mündlicher Techniken. Mündlichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur die mündliche Überlieferung beispielsweise auswendig gelernter und dann rezitierter Texte, Mündlichkeit bedeutet vor allem die spontane und mündliche Entstehung von Dichtung; Mündlichkeit in diesem Sinne impliziert somit Originalität, das heißt Unwiederholbarkeit.

In ihren Dichtungen behandeln die Dichter-Sprecher insbesondere historische Ereignisse und deren Konsequenzen für soziale und politische Gruppierungen. Sie tun dies jedoch einseitig, da sie Herkunft und Geschichte ihrer eigenen Bezugsgruppe bevorzugt behandeln, während sie die allgemeinen historischen Prozesse Timors vernachlässigen. In den Lebenszyklusritualen tragen sie nach partiell subjektiven Kriterien erstellte Versionen vor (Carle, 1990, S.142).

In diesem Verständnis ist die von den Dichter-Sprechern überlieferte Geschichte der
Atoin Meto eine regionale Geschichte. Dieser Begriff verdeutlicht, daß es sich um historische Überlieferungen handelt, die in regionale beziehungsweise territoriale Zusammenhänge eingebunden sind. Für die Atoin Meto bedeutet Geschichte und historische Überlieferung die dichterische Darstellung gesellschaftlichen Handelns, das im Idealfall ein adat-gemäßes Tun sein soll. Seine Legitimation, seine Norm- und Wertorientierungen sowie sein Ethos bezieht solches Handeln aus Ereignissen der Vergangenheit, die mit dem Leben der Ahnen als den Protagonisten der Dichtungen zusammenhängen. 4

In spontaner Improvisation komponierte mündliche Dichtung wird von Dichter-Sprechern in der kanonisch verbindlichen und vorbildlichen Form ritueller Rede vorgetragen. Im Rahmen der Lebenszyklusrituale kommt diesen Dichtungen eine doppelte Funktion zu:

  • sie dienen der Bewahrung und Kontinuierung kulturell relevanten Wissens und
  • sie stiften und stabilisieren kulturelle und ethnische Identität. Ihre historischen Themen erklären und repräsentieren die ganze Gemeinschaft, indem sie die Grenze zwischen Wir und Ihr reflektieren und legitimieren. Sie bieten dem zuhörenden Ritualteilnehmer ein Deutungs- und Wertsystem an, das Handlungsorientierungen enthält, das ihn dabei unterstützt, seine Zugehörigkeit zu definieren.

Die in den mündlichen Dichtungen proklamierte gemeinsame Geschichte, ein gemeinsames Territorium, vielfältig verschachtelte, präskriptive Heiratsallianzen, gemeinsam beachtete Normen und Werte, gemeinsame politische und religiöse Traditionen sowie die gemeinsam durchgeführten Rituale bilden dabei die offensichtlichsten Bezüge einer solchen Wir-Identität.

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